Neue Serie: Märchen aus fernen Ländern, erzählt in madagassischer Sprache

 

 

Rotkäppchen

 

(Ikalasatromena)

 

Aus der Sammlung der Gebrüder Grimm/ Deutschland

 

Text: Michèle Rakotoson, Bilder Michael Nambs‘

 

 

(S.4) Es war einmal, so wird erzählt, liebe Kinder, ein liebenswertes kleines Mädchen. Ein jeder mochte sie gern, und ihre Großmutter tat alles, um ihr Freude zu machen.

Eines Tages nähte sie ihr ein wunderschönes Käppchen aus rotem Samt. Und was dann geschah, liebe Kinder, dürft ihr erraten: sie wollte es gar nicht mehr abnehmen, so daß man sie Rotkäppchen nannte.

 

(6) Eines Tages sagte ihre Mutter zu ihr: „Rotkäppchen, gehe zu deiner Großmutter und bringe ihr Kuchen und Wein. Sie fühlt sich nicht so wohl, das wird ihr gut tun. Und beeile dich, spiel nicht unterwegs, mache keinen Umweg und gib auf die Flasche acht, daß sie nicht zerbricht. Und sei hübsch artig, grüße Großmutter von mir, sei nicht neugierig und stöbere nicht überall herum.“

 

(8) „Mach‘ dir keine Sorgen, Mutti“, antwortete Rotkäppchen, „ich werde artig sein“. Sie umarmte ihre Mutter und machte sich auf den Weg. Ihre Großmutter wohnte weit im tiefen Wald, eine halbe Stunde zu laufen.

Während Rotkäppchen vergnügt ihres Weges lief, tauchte plötzlich der Wolf auf. Sie hatte aber keine Angst, denn sie wußte nicht, was für ein böses Tier er war. Woher sollte sie das denn auch wissen?

 

(10) „Guten Tag, Rotkäppchen“, sagte der Wolf.

„Guten Tag, Wolf“ - „Wohin des Weges?“

„Ich will meine Großmutter besuchen, es geht ihr nicht so gut, sagt meine Mutter“. – „Und was bringst du ihr mit?“

„Wein und Kuchen, den wir gestern gebacken haben, damit sie wieder zu Kräften kommt.“ – „Wo wohnt denn deine Oma?“

„Weißt du das denn nicht? Sie wohnt tief im Wald, noch eine Viertelstunde von hier. Kennst du die drei großen Eichbäume? Sie wohnt in ihrem Schatten.“

 

(12) „Dieses Mädchen wäre eine gute Mahlzeit“, dachte der Wolf, „sie hat zartes Fleisch, denn sie ist jung. Viel schmackhafter als ihre alte, magere Oma. Aber ich darf nichts überstürzen, denn ich will sie, wenn möglich, alle beide fressen.“

So begleitete er sie ein Stück auf ihrem Weg und lenkte sie listig ab: „Rotkäppchen, schau mal, wie hübsch die Blumen um uns herum sind – siehst du sie gar nicht? Ich glaube, du hörst nicht einmal das fröhliche Zwitschern der Vögel. Du läufst geradewegs, als wärest du auf dem Schulweg, ohne nach rechts und links zu sehen. Dabei ist es so schön im Wald.“

 

(14) Rotkäppchen blieb stehen und sah erst jetzt voller Bewunderung, wie das Sonnenlicht zwischen den Bäumen spielte und welch schöne Blumen auf der Wiese blühten. Sie dachte bei sich: „Großmutter wird sich sehr freuen, wenn ich ihr einen Strauß Blumen mitbringe. Ich habe ja Zeit, es ist noch früh am Tag.“ Und ohne Zögern verließ sie den Weg und pflückte die Blumen im Wald. Sie merkte nicht, daß sie immer weiter vom Wege abkam. Immer, wenn sie eine Blume pflückte, sah sie ein Stück weiter eine noch schönere stehen, und so geriet sie immer tiefer in den Wald.

 

(16) Inzwischen lief der Wolf schnurstracks zum Haus der Großmutter.

- „Wer ist da?“ rief sie, als sie das Klopfen an der Tür hörte.

- „Ich bin’s, Rotkäppchen, ich bringe dir Kuchen und Wein“.

- „ Drück‘ nur auf die Türklinke, meine Kleine“, sagte die Großmutter. „Ich bin zu schwach, um aufzustehen.“

Der Wolf drückte die Klinke, die Tür öffnete sich, und er rannte zum Bett, wo er die alte Frau verschlang. Dann schlüpfte er in ihr Nachthemd, zog die Vorhänge zu und legte sich ins Bett.

 

(18) Inzwischen pflückte Rotkäppchen soviel Blumen, wie sie tragen konnte. Dann fiel ihr plötzlich die Großmutter wieder ein und sie machte sich schnell auf den Weg zu ihr. Aber als sie an das Haus kam und die Tür offen fand, wunderte sie sich. „Seltsam“, dachte sie, „was ist nur mit mir los. Ich bin zu ängstlich geworden. Dabei freue ich mich sonst sehr, wenn ich zur Großmutter komme.“

 

(20) Sie rief „Guten Tag, Großmutter“. Aber niemand antwortete. Sie trat zum Bett und zog die Vorhänge zur Seite. Die Großmutter lag im Bett, die Schlafhaube tief ins Gesicht gezogen.

„Seltsam“, dachte Rotkäppchen wieder, „sie sieht nicht wie sonst aus“. Und sie fragte:

-          Großmutter, was hast du für lange Ohren?

-          Damit ich dich besser hören kann.

-          Großmutter, was hast du für große Augen?

-          Damit ich dich besser sehen kann.

-          Großmutter, was hast du für große Hände?

-          Damit ich dich besser packen kann.

-          Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzliches großes Maul?

-          Damit ich dich besser fressen kann.

 

(22) Und kaum hatte er das gesagt, da sprang der Wolf aus dem Bett und verschlang Rotkäppchen.

Da er nun satt war, legte er sich wieder ins Bett und schnarchte sehr laut. Ein Jäger ging draußen vorbei und hörte das laute Schnarchen. Er dachte an die alte Großmutter und wollte nach dem Rechten sehen. Als er hereinkam, sah er den Wolf im Bett statt der Großmutter.

- „Hab ich dich endlich, alter Schurke, dich habe ich schon lange gesucht.“

 

(24) Er wollte gerade mit dem Gewehr auf den Wolf schießen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre vielleicht noch zu retten. Er nahm eine Schere und schnitt dem Wolf den Bauch auf. Kaum hatte er ein paar Schnitte getan, da sah er Rotkäppchen, das mit einem Satz heraussprang. „Ich hatte solche Angst, es war so dunkel im Bauch vom Wolf.“ Und dann kam auch gleich noch die Großmutter lebendig heraus, sie war schon fast erstickt.

 

(26) Rotkäppchen holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Bauch. Der wachte auf und wollte weglaufen, aber er kam nicht weit. Er stürzte wegen der schweren Wackersteine zu Boden und war sofort tot.

Die drei waren glücklich und vergnügt, heil und lebendig davon gekommen zu sein. Der Jäger zog dem Wolf das Fell ab, um es mitzunehmen. Die Großmutter erholte sich, nachdem sie den Kuchen gegessen und den Wein getrunken hatte. Rotkäppchen aber dachte bei sich, daß sie nie wieder vom Weg in den Wald laufen wollte, wenn es ihr die Mutter verboten hat.

 

Ein Märchen, ein Märchen. . .

(bprpfw XII/16)