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9 - Der Blinde und der Lahme
(I Goa sy Kepeke)

 

 

Ein Märchen der Androy aus dem Lande der Dornen, gesammelt von Simeon Rajaona,

adaptiert von Nalisoa Ravalitera;

Bilder von Antso Andrianary

 

 


 

 

(4) Es lebten einmal, liebe Kinder, fern im Lande der Antandroy zwei Männer. Der eine hieß Goa. Er war blind, aber stark und kräftig. Der andere dagegen war gelähmt. Er konnte nicht laufen, konnte aber gut sehen und war schlau. Er wurde Kepeke genannt.

6) Die beiden, so wird erzählt, trafen sich zufällig und verstanden sich sogleich. Als erster sprach Kepeke, denn er konnte den anderen gut sehen.

8) „Ich heiße Kepeke“, sagte er. „Ich kann nicht laufen, ich kann mich nur vorwärts schieben. Ich sehe, daß du blind bist. Wie wäre es, wenn wir Freunde würden. Wir könnten gut zusammenarbeiten. Ich zeige dir den Weg, und du trägst mich auf deinem Rücken.“ „Abgemacht“, erwiderte der Blinde. „Ich heiße Goa“. Goa nahm Kepeke auf seinen Rücken und so machten sie sich auf den Weg.

 

(10) „Ich habe Hunger“ sagte Kepeke, „da ist ein Maisfeld“. „Ich bringe Dich hin und wir werden viele Maiskolben zum Grillen pflücken. Wir können schnelle Beute machen“ sprach Goa und betrat das Feld, wo Kepeke die Kolben pflückte.

Dann liefen sie schnell weiter, aber man hatte sie beobachtet und benachrichtigte den Besitzer des Maisfeldes.

(12) Der Besitzer rief die Dorfbewohner zusammen, und die beiden Diebe wurden vor den Dorfältesten gebracht.“Ihr seid des Diebstahls beschuldigt worden“ sagte der Dorfälteste. „Sagt, was ihr zu eurer Verteidigung bringen könnt, vielleicht werdet ihr ja zu Unrecht beschuldigt.

(14) „Könnt ihr beschwören, daß ihr nicht gestohlen habt?“ fragte der Dorfvorsteher.

„Das kann ich“, antwortete Goa, „ich konnte auf keinen Fall das Feld sehen – ich möchte auf der Stelle sterben, wenn ich den Mais gestohlen hätte“.

„Und ich möchte ebenfalls des Todes sein, wenn meine Füße je das Feld betreten hätten“ fügte Kepeke hinzu.

Die versammelten Dorfleute stimmten ihnen zu und riefen, daß Goa und Kepeke die Wahrheit sagten. Und so wurden die beiden Männer freigesprochen, denn Goa hatte keinen Mais gepflückt und Kepeke hatte kein fremdes Feld betreten.

 

(16) Sie wanderten weiter und trafen eine Kuh, die herrenlos über den Weg lief. Kepeke, der auf Goas Rücken saß, führte seinen Freund zu der Kuh. Er streichelte das Tier am Bauch über dem Schenkel, und dadurch wurde die Kuh ganz zahm. Sie banden das Tier mit einem Strick aus Rinde und zogen es mit sich.

Voll Freude über ihren reichen Fang schlugen sie ihre Hände ein und gratulierten einander.

(18) Bald darauf merkte Kepeke, daß die Kuh trächtig war, und er beschloß bei sich, Goa um seine Beute zu bringen. „Wie wäre es, ich nehme diese Kuh hier für mich, und du bekommst die nächste, wenn uns eine über den Weg läuft.“, sagte er. „Ich bin nicht einverstanden“, antwortete Goa. „die Kuh gehört mir, denn wenn ich dich nicht getragen hätte, hättest du sie nicht bekommen, auch wenn du sie gesehen hast“. “Ich habe sie als erster gesehen, sie gehört mir“ rief Kepeke. Sie stritten weiter, bis die Leute zusammen liefen und nach einem Schlichter riefen.

(20) Der Richter sprach in der Versammlung: „Einigt Euch. Diese Kuh trägt ein Kalb. Es gehört euch beiden. Warum wartet ihr nicht ab, bis es geboren wird? Vielleicht bekommt sie ja Zwillinge, dann hat jeder das, was er möchte, der eine das erstgeborene, der andere das zweite. „Mir gehört das Erstgeborene“ schrie Kepeke gleich. „Nein, mir“ sagte Goa, „du bekommst das nächste.“

 

(22) Der Richter bemühte sich, den Streit zu schlichten, aber keiner wollte nachgeben. Goa versuchte, Kepeke auf den Boden zu werfen, aber der klammerte sich an ihm fest. Die Menschen um sie herum johlten.

(24) „Wenn ihr euch nicht einigen könnt, muß ein Speer mit zwei Spitzen über euch richten. Nehmt ihn jeder an einem Ende und versucht, den anderen damit zu erstechen. Wer überlebt, hat gewonnen und bekommt die Kuh.“

„Ich kann doch gar nicht sehen, er wird mich umbringen“ rief Goa. „Und ich bin gelähmt und habe nicht genug Kraft gegen ihn“ erwiderte Kepeke.

„Wenn ihr nicht wollt, dann bekommt die Dorfgemeinde die Kuh“. – Die Menschen johlten wieder, und die beiden Helden bekamen Angst.

(26)„Die Kuh gehört uns“ sprachen beide zur gleichen Zeit. – „Dann einigt euch“, sprach der Richter, „schließt Frieden und streitet euch nicht weiter“.

„Das stimmt, warum streiten wir uns“, sagte Goa „ich bin blind und brauche dich, damit du mich führst“. „Du hast recht,“ erwiderte Kepeke, „ich bin gelähmt und brauche deine Kraft, damit du mich trägst“. Sie gaben sich die Hand und schworen sich Freundschaft und brüderliche Hilfe, denn allein jeder für sich konnten sie nichts erreichen. Die Dorfleute aber freuten sich und applaudierten.

 

Ein Märchen, ein Märchen.... (bpr & pfw I/14)