8 - Imaitsoanala, die Tochter des Riesenvogels

(Imaitsoanala – Atodim-borona nanjary olona)

 

Ein Märchen der Sakalava [Westküste]

Text von Nandrasana, Bilder von Patoo

 

(4) Vor langer Zeit, liebe Kinder, so wird erzählt, baute der Riesenvogel Ivorombe sein Haus auf einer Insel und lebte dort mit seiner Dienerin Iangoria.
Bald legte Ivorombe Eier und bebrütete sie. Eines aber schlüpfte nicht, und Iangoria legte es in einen Korb, damit Ivorombe es später verspeisen konnte. Bald darauf brach jedoch das Ei auf und es entsprang daraus ein Menschenkind, ein kleines Mädchen. Überrascht und entzückt gaben sie ihr den Namen Imaitsoanala. Ivorombe brachte die beste Beute von ihren Jagdausflügen zu ihrer Tochter.

(6) Jedesmal, wenn der Vogel auf Jagd ging, machte er sich Sorgen, sein Kind könnte entführt werden. Bei der Rückkehr rief er schon von weitem nach seiner Tochter und schnüffelte dann mißtrauisch im Haus herum. Er meinte dann, es rieche nach Menschen.
Eines Tages kam Andriambahoaka, ein König aus dem Norden, mit seinem Gefolge zu der Insel.

(8) Der König kam nicht aus dem Staunen heraus, als er das Kind von Nahem sah und fragte die Dienerin: „Wessen Tochter ist dieses schöne, wohlgestaltete Kind? Ich möchte sie später, wenn sie groß ist, gern zur Frau nehmen.“ „Edler Herr“, sagte Iangoria, „ihre Mutter ist der gefürchtete Riesenvogel Ivorombe! Gehen Sie fort, sie kommt um diese Zeit zurück. Außerdem ist das Mädchen noch zu jung.“
Als Andriambahoaka das hörte, entschloß er sich, nach Hause zurückzukehren.

(10) Zu Hause erzählte er seinen beiden Frauen bei Hofe von der wundersamen Erscheinung und teilte ihnen seinen Wunsch mit, um Imaitsoanalas Hand anzuhalten, wenn sie älter wäre. Seine Frauen und das Volk gaben ihr Einverständnis und sagten: „Mögen sich der Wunsch Eures Herzens und Eure Träume erfüllen, oh Herr, wir wünschen Euch ein langes Leben.“

(12) Einige Zeit später kam der König wieder und sprach voll Liebe zu Imaitsoanala: „Gnädiges Fräulein, ich liebe Euch so sehr, daß ich Euch zur Frau nehmen will. Wollt Ihr mir folgen?“ Sie aber erwiderte: „ Ich danke Euch für Eure Worte, es ist eine große Ehre für mich. Aber das Leben mit mir wird unerträglich sein für Euch, ich bitte Euch, von Euren Plänen abzulassen.“

(14) „Meine Mutter, “ fuhr Imaitsoanala fort, „ist ein fürchterlicher Raubvogel, wie kann ein König wie Ihr mit einer solchen Schwiegermutter zusammenleben?“
Der König versicherte jedoch, daß er alles ertragen würde: „Es macht mir nichts aus, meine Liebe zu Euch ist so groß, daß sie mir die Kraft geben wird, alles durchzustehen.“  Iangoria flehte den König an, auf Ivorombe zu warten. Sie traute sich aber nicht, weiter Widerstand zu leisten. So folgte Imaitsoanala schließlich dem König.

(16) Als Ivorombe zurückkam und ihre Tochter nicht zu Hause fand, machte sie sich sofort an die Verfolgung. Der König und Imaitsoanala ließen aber von ihren Dienern Bohnen, Reis und Maiskörner auf dem Wege ausstreuen, sobald der Vogel näher kam. Das lenkte ihn ab. Er sammelte sie auf und zürnte „Wie kann man Reis wegwerfen, den man zum Essen braucht! Und wie kann meine Tochter mich verlassen, der ich sie in die Welt gesetzt habe!“
Inzwischen trafen die beiden wohl behalten zu Hause ein und wurden vom Volk freudig empfangen.

(18) Eines Tages kam Ivorombe, um ihre Tochter zu besuchen. Sie geriet wieder in Wut, hackte der Tochter die Augen aus und kratzte ihre Haut ab. Die arme Imaitsoanala wurde nun von den beiden anderen Frauen verspottet: „Was ist das für eine Ehefrau, mit ihren weißen Knochen und leeren Augen? Wenn er sie trotzdem zur Frau nehmen will, geben wir nur dann unser Einverständnis, wenn sie genau die gleichen Handarbeiten macht wie wir.“ Und sie brachten ihr Palmblätter, die sie zu Matten flechten sollte.
Imaitsoanala weinte vor Verzweiflung und wußte nicht, wie sie ohne Augen die Arbeit verrichten sollte.

(20) Zu dieser Zeit kochte Ivorombe Reis. Da tropften aus den Augen ihrer Tochter, die über der Kochstelle lagen, Tränen in das Feuer. Sie dachte: „Ich muß zu meiner Tochter – sie leidet sehr unter meiner Bestrafung, daß sie so weinen muß.“ Als sie zu Imaitsoanala kam, erzählte die ihr von ihrer Not. Ivorombe hatte jetzt großes Mitleid und flocht die Matten an ihrer Stelle.

(22) Als die anderen Frauen die fertigen Matten sahen, wurden sie noch wütender. Sie brachten Imaitsoanala  neue Aufträge. Wieder weinte sie bitterlich. Aber wieder kam ihre Mutter herbeigeflogen und erledigte die Arbeiten für sie.
Die wütenden Frauen sprachen zum König „Ihr habt die Tochter eines Vogels zur dritten Frau genommen. Wir schämen uns, daß sie beim Volk als wunderschön gilt, obwohl wir nur weiße Knochen und leere Augen sehen. Laßt uns in einem Wettbewerb vor das Volk treten.“ Der König konnte sie nicht davon abbringen.

(24) Als Ivorombe von dem Plan hörte, bereitete sie ihre Tochter darauf vor: Sie gab ihr die Augen und die Haut zurück und brachte ihr edle Kleider und Goldschmuck.
Das Volk versammelte sich für das Fest und man rief die drei Frauen auf die Bühne. Auf der Ostseite stolzierten hochnäsig und siegessicher die beiden ersten Frauen  herauf.  Imaitsoanala aber kam, eingehüllt in ein Tuch, zur Nordseite.

(26) Dann ließ sie das Tuch fallen und man sah ihr Gesicht. Die Menschen jubelten angesichts ihrer Schönheit. Die beiden anderen Frauen aber ernteten Spott und Hohn. Sie liefen davon und verließen das Dorf für immer.
Überglücklich führte der König Imaitsoanala nach Hause, sie war nun seine einzige Frau. Bald bekamen sie einen Sohn, den sie Andriambahoaka nannten, denn er sollte den Namen des Vaters weitertragen.

Ein Märchen, ein Märchen.... (bpr & pfw I/14)