4 - Das Krokodil und der Papagei

(2.Aufl. Juli 2015)

(Ravoay sy Rakoera)

 

Aus der Sammlung „Märchen aus dem Antakarana“, Hrsg. Foi et Justice

Text von Myriam Verenako, Bilder von Patoo

 

(S.4) Es waren einmal, liebe Kinder, so wird es in der Gegend von Anbanja im Norden Madagaskars erzählt, ein Krokodil namens Ravoay und ein Papagei, der hieß Rakoera, auch Raboloky genannt. Das Krokodil lebte im Wasser, und der Papagei lebte an Land. Die Familie der Krokodile wuchs und wuchs. Sie hatten große Mühe, genug zu essen zu finden. Deshalb wurden sie immer grausamer und fraßen alle Tiere, die dem Wasser zu nahe kamen, sogar Menschen.

Rakoera dagegen lebte friedlich auf dem Land, arbeitete fleißig und wurde reich.

 

(6) Ravoay lauerte ständig am Rande des Wassers auf Tiere und Menschen, die ans Ufer kamen. Eines Tages kam Rakoera, um Wasser für die Küche zu schöpfen. Da schnappte ihn das Krokodil. Es fraß ihn aber nicht sofort, sondern brachte seine Beute zu der Wohnhöhle seiner Familie.

 

(8) Unterwegs versuchte der Papagei, das Krokodil zu besänftigen und bat es, ihn freizulassen. Dafür wollte er ihm einen ganzen Ochsen schenken. Ravoay aber lehnte ab - von einem Ochsen würden er und seine Familie nicht satt. Da bot ihm Rakoera zehn Ochsen, doch dem Krokodil war das immer noch nicht genug.

Schließlich versprach ihm der Papagei alle Rinder seiner Herde, und nun endlich stimmte Ravoay zu und brachte ihn wieder ans Ufer zurück.

 

(10) Ehe das Krokodil Rakoera freiließ, fragte es: was ist, wenn du mich betrügst und du die Rinder nicht bringst? – Dann könnt ihr in unser Dorf kommen und alle auffressen, antwortete der Papagei.

Beide begaben sich nach Hause und versammelten ihre Familien. Ravoay berichtete den Krokodilen von der Abmachung und sagte: bereitet Euch vor, morgen werden wir alle Rinder von der Herde des Herrn Rakoera bekommen.

 

(12) Rakoera, der beim Fang verletzt worden war und seither hinkte, wollte seine Rinder natürlich nicht den Krokodilen schenken. Außerdem sann er auf Rache. Zusammen mit seiner Familie heckte er daher einen Plan aus, um die Krokodile umzubringen.

 

(14) Am nächsten Morgen versammelten sich die Papageien im Wald bei ihrem Dorfe. Herr Rakoera flog ans Ufer und rief die Krokodile herbei. Noch einmal warnte Ravoay: Wehe, wenn du versuchst, uns zu betrügen, dann werden wir Dich bei lebendigem Leibe auffressen. – Aber natürlich, antwortete der Papagei, so ist es abgemacht.

Und die Krokodile kamen eins nach dem anderen aus dem Wasser.

 

(16) Als die Krokodile auf die Wiese mit dem hohen Gras gleich bei dem Wald der Papageien kamen, rief der Papagei: verteilt euch und versteckt euch gut im hohen Gras, wir treiben Euch die Rinder zu.

 

(18) Während sich die Krokodile im Gras versteckten, riefen die Papageien im Walde
„Hi-o-o-o-o,  Hi-o-o-o-o“, als würden sie die Rinderherde vor sich her treiben. Die Krokodile jubelten und freuten sich auf das Rinderfleisch.

 

(20) Einige Papageien waren jedoch an den Rand der Wiese geflogen und steckten das trockene Gras in Brand. Als die Krokodile die Rauchwolken sahen, waren sie völlig überrascht und wollten in Panik flüchten. Das Feuer breitete sich aber sehr schnell aus, so daß die Krokodile der Feuerhölle nicht entkommen konnten.

 

(22) Nur eines der Krokodile konnte sich mit einem gewaltigen Sprung durch das Feuer retten und halbverbrannt das Wasser erreichen. Sein Rücken, sein Kopf und sein Schwanz waren aber schwer verbrannt. Es löschte das Feuer im Wasser. Dann sann es auf Rache.

 

(24) Deshalb ist die Haut der Krokodile noch heute rauh und schuppig von den Narben der Brandwunden. Und bis heute lauern sie am Ufer auf ihre Todfeinde, die Papageien.

 

(26) Die Papageien aber trauen sich nicht mehr ans Wasser, sondern sitzen auf den Ravenala-Bäumen [„ Baum des Reisenden“, „Fächerbanane“], wo sie zwischen den Blättern trinken und baden.

Und im Frühjahr, wenn die Papageien neue Federn bekommen, rufen sie immer noch „Hi-o-o-o“, zur Erinnerung an ihren Sieg über die Krokodile.

 

Ein Märchen, ein Märchen,…  (bpr & pfw II/13)