Die Geschichte eines armen Fischerjungen, der schwierige Aufgaben und Mutproben besteht und zum Lohn eine Prinzessin zur Frau bekommt und ein halbes Königreich erbt.

 

13 – Wie ein armer Schlucker König wurde

 

 

 

(Ilay masikiny nanjary ampanjaka)

 

 

 

Ein Märchen der Antakarana (éd. Foi et Justice 2015)

 

Erzählt von Michèle Rakotoson, Bilder von Antso

 

 

 

(4) Vor langer Zeit, liebe Kinder, so erzählt man, lebte in einem Dorf mit dem Namen Antsakalony auf der Insel Nosi-Be eine Familie: Vater, Mutter und ihr einziger Sohn.

 

Sie waren bitter arm und wussten nicht, wovon sie sich Tag für Tag ernähren sollen. Eines Tages sagte der Sohn zu seinen Eltern, er wolle fortgehen, um in der Ferne sein Glück zu finden und nach Geld und Reichtum zu suchen. Er bat um ihr Einverständnis.

 

„ Liebster, du bist unser einziges Kind, bleib bitte hier“, antworteten sie, „im Land herrscht kein Friede“. Da er aber fest entschlossen war, gaben sie schließlich ihren Segen.

 

 

 

(6) Früh am Morgen machte sich unser junger Mann auf den Weg. Er war schon ziemlich weit weg, da kam er an ein großes schlammiges Loch. So viel Schlamm hat er noch nicht gesehen! Aber nicht nur Schlamm, es wimmelte von Mücken!

 

„ He Tendrovolo [Bezeichnung für Menschen], Du Menschensohn mit dem Haar auf dem Kopf, laß uns bitte von Deinem Blut trinken, wir sterben vor Hunger“.

 

„ Ist das alles?“, fragte er, und ließ sie so viel von seinem Blut saugen,wie sie mochten. Nur die Augen sparten sie aus. Bevor er weiterging, versprachen ihm die Mücken, dass, wenn er mal ihre Hilfe bräuchte, sie zu ihm eilen würden.

 

 

 

(8) Der junge Mann setzte seine Reise fort und traf nach einer Weile auf eine ganze Horde von Ratten. Diese sprachen ihn an: „ O Tendrovolo, Du Menschensohn mit vollem Haar, gib uns bitte Deine Kleider zu essen, wir haben großen Hunger!“

 

„ Ist das alles?“, fragte er und zog seine Kleidung aus. Die Ratten stürzten sich gierig darauf, fraßen, knabberten und zerlegten sogar die Knebelverschlüsse. Satt und hochzufrieden, versprachen sie ihm ihre Hilfe, wenn er mal Unterstützung brauchte.

 

 

 

(10) Tag und Nacht marschierte er weiter, ohne Rast. Eines Tages, gegen Mittag, kam er in ein Dorf und sah eine alte Frau in ihrem Haus sitzen.

 

„Guten Tag, Großmutter“, sagte er höflich, „gibt es hier vielleicht Arbeit? Kann man hier Geld verdienen und reich werden? Wir leiden unter einer schrecklichen Hungernot in unserem Dorf.“

 

„ Es gibt tatsächlich Reichtum zu gewinnen. Der König sucht nämlich einen Mann für seine Tochter. Der junge Mann, der die vom König geforderten Prüfungen schafft, der darf nicht nur seine Tochter heiraten, sondern bekommt gleichzeitig die Hälfte seines gesamten Vermögens.“

 

„ Ist das alles? Ich stelle mich auf der Stelle vor“, erklärte er leicht überheblich.

 

„ Paß auf, die Prüfungen sind schwer“, lachte sie. „Selbst große fremde Krieger haben sie nicht bestanden  und sind alle ums Leben gekommen; und du, so klein wie du bist, bildest dir ein, es schaffen?“

 

 

 

(12) Der junge Mann hörte sie gar nicht mehr, er war bereits auf  dem Weg zum Königsschloß, das er nach einem weiten, tagelangen Marsch erreichte.

 

„Verzeihen Sie, Majestät“, sprach er höflich und formvollendet, „ ich bin auf der Suche nach Arbeit, Geld und Reichtum, Kann ich das hier finden? Wir haben eine schwere Hungernot in unserem Dorf“.

 

„ Du bist mutig und fürchtest dich nicht vor mir“, antwortete der König. „Deinen Mut werde ich auf die Probe stellen, wer weiß, vielleicht kannst du mein Schwiegersohn werden  und mein halbes Vermögen erben“.

 

„ Ich bin bereit“, antwortete der Jüngling ohne zu zögern.

 

 

 

(14) Mit strenger Stimme verkündete der König: „Hier ist die erste Prüfung: wirf uns sieben Nüsse von diesem Riesenkokosnußbaum herunter,  falls es Dir gelingt, hinaufzuklettern.

 

Die zweite Prüfung: meine Frau und meine Tochter werden zusammen vor dich treten, du mußt sie unterscheiden und sagen, wer die Mutter und wer die Tochter ist.“

 

Wieder tat der junge Mann unbeeindruckt und sagte: „Ist das alles? Ich werde das schaffen“. Er bat um eine kleine Frist bis zum Abend und suchte die Ratten und die Mücken, seine Freunde, auf.

 

 

 

(16) Er erzählte ihnen von der ersten Prüfung und erklärte, daß er ihre Hilfe brauche.

 

„Ist das alles? Das ist nicht schwierig für uns, wir spielen jeden Abend da oben in diesem Kokosnußbaum. Mach dir keine Sorgen, du kriegst deine Nüsse“.

 

Danach ging er zu seinen anderen Freunden, den Mücken, und erzählte ihnen von der zweiten Prüfung, die auf ihn wartete.

 

„Ach, mach dir keine Sorgen“, erwiderten die Mücken, „ wir spielen jede Nacht im Königschloß, wir kennen uns dort bestens aus“. „Außerdem“, fügte eine hinzu, „steche ich jede Nacht mit Vorliebe die Tochter“.

 

Es wurde Nacht, acht Uhr. Alle waren gekommen, jung und alt waren auf dem Platz versammelt und warteten. Zwölf Ratten saßen bereits ganz oben auf der Kokospalme.

 

 

 

(18) Die Prüfung begann, der Jüngling kletterte die Palme hinauf, bis man ihn von unten nicht mehr sehen konnte. Dann fing er an, seinen Freunden leise zu zu summen:  „Ihr Ratten, Ihr lieben Tiere, helft mir, mein Mut hat mich verlassen“.

 

Die Ratten näherten sich und fragten ihn flüsternd: „ Wieviele Nüsse brauchst du?“

 

“ Sieben“. - “ Ist das alles?“

 

 

 

(20) Eifrig machten sich die Ratten an die Arbeit. Sehr bald fiel die erste Nuß, dann die zweite, die dritte...,  und zum Schluß waren es sieben.

 

Der König kam aus dem Staunen nicht heraus. So etwas hatte es noch nicht gegeben. Die Palme ist so hoch, daß man fünf Stunden brauchte, um an die Spitze zu gelangen. Was ist das für ein junger Mensch? fragte er sich insgeheim.

 

Er wollte sich aber nicht geschlagen geben und sagte mit ernster Stimme: “ Du hast die erste Prüfung bestanden, wir wollen die nächste sehen“.

 

 

 

(22) Der König, wollte nicht aufgeben. Es darf doch nicht sein, dachte er, daß ein solcher Mensch, der in größtem Elend lebt, es schafft, meine Tochter zu heiraten!

 

Er erklärte ihm nochmal, was er zu bestehen hatte: “Morgen wirst Du entscheiden, wer die Mutter und wer die Tochter ist. Paß auf, daß Du Dich nicht vertust, denn dann bist Du Deinen Kopf los“.

 

„ Jawohl, “ antwortete der junge Mann, der bemüht war seine Unruhe nicht zu zeigen, „ morgen werde ich sagen, wer die Mutter und wer die Tochter ist. Laßt mich erstmal ausruhen, ich bin erschöpft.“

 

Er rief die Mücken zur Hilfe: “ Ihr Mücken, Ihr lieben Tiere. Kommt, helft mir jetzt. Er schickt mich in die schreckliche Prüfung“

 

Die Mücken kamen alle in das Schloß geflogen, um dem jungen Mann beizustehen.

 

 

 

(24) Am nächsten Morgen kam der junge Mann ins Schloß, wo ihn der König mit den schönsten Kleidern kleiden ließ. Königin und Königstochter hatten bereits Platz genommen. Zitternd und in leichter Panik sah der arme junge Mann die vollkommene Ähnlichkeit von Mutter und Tochter: gleiche Flechtfrisur, gleicher Schmuck, gleiches Gesicht, gleiche Figur, beide trugen Kleider von gleicher Schönheit und Eleganz. Man konnte Mutter und Tochter nicht auseinanderhalten. Verzweifelt rief er seine Freunde zur Hilfe:

 

“ Ihr Mücken, Ihr lieben Tiere, helft mir doch bitte, mich hat der Mut verlassen“.

 

Die Mücken näherten sich ihm und flüsterten ihm zu: -“ Schau Dir genau diese eine von uns an, sie sticht jede Nacht die Tochter“.

 

Die genannte Mücke kam hinzu, flog zu Mutter und Tochter und setzte sich stolz auf die Nasenspitze des jungen Mädchens.

 

“ Diese hier ist Ihre Tochter!“, rief der junge Mann und zeigte auf sie.

 

 

 

(26) Das Volk brach in Jubel aus. “ Die Tochter des Königs hat einen Bräutigam gefunden!“ riefen sie voll Freude, „den ärmsten und klügsten von allen.“

 

Der König hielt sein Wort. Er gab dem armen jungen Mann seine Tochter zur Frau und außerdem noch die Hälfte seines Vermögens.

 

 

 

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Ich erzähle, ihr hört zu